«Microaggression» löst bei US-Professoren Angst aus

Bild: Scott Strazzante / Polaris / Laif
Amerikanische Studierende scheuen zunehmend die Konfrontation mit anderen Meinungen: 2016 wurde eine Rekordzahl von gestörten oder abgesagten Vorträgen verzeichnet. Ist die freie Lehre bedroht?
Als ich unlängst einen guten Freund nach längerer Zeit wieder traf und Anstalten zum üblichen Begrüssungsritual machte, scheute er unwillkürlich zurück. Der Grund für diese irritierende Reaktion ging mir erst im Laufe unseres Gespräches auf. Der Freund, langjähriger Literaturprofessor an einer renommierten amerikanischen Universität, war ein Jahr lang durch die Hölle gegangen. Er hatte gegenüber einer Studentin scherzhaft die nackten Brüste der Steinzeitfrauen am Lagerfeuer erwähnt. Kurze Zeit später ging eine Beschwerde bei der Universitätsleitung ein; Stichwort: «sexual harassment» und sexistische Degradierung von Frauen.
Als der Professor nach einer aufwendigen Prüfung durch eine unabhängige Kommission – und mehreren Stunden «Sensibilitätstraining» – in allen Punkten freigesprochen worden war, verklagte die vermeintlich Geschädigte die Uni auf eine Million Dollar – wegen Vereitelung eines gerechten Verfahrens. Die Sache wurde aussergerichtlich beigelegt und dem Professor Stillschweigen auferlegt. Doch die Geschichte ist signifikant für einen atmosphärischen Wandel an amerikanischen Unis, der einen rigiden Regelkatalog für alle Lebenslagen nach sich zieht. Der Grund für das Zurückzucken meines Freundes: Ein Wangenkuss auf dem Uni-Gelände geht durch, zwei sind tabu. […]
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Andrea Köhler wurde in Bad Pyrmont geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Braunschweig und Freiburg im Breisgau begann sie 1984 als freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Literaturkritik. Von 1991 bis 1994 arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Paris. Seit 1995 Mitglied der NZZ-Feuilleton-Redaktion, zunächst mit Zuständigkeit für die deutschsprachige Literatur; von 2001 bis 2018 lebte sie als Kulturkorrespondentin für die NZZ in New York. Im Jahr 2000 war sie Visiting Professor an der Washington University of St. Louis. 2003 erste Preisträgerin des Berliner Preises für Literaturkritik. 2004 Max Kade Fellowship und 2017 Fellowship der Bogliasco Foundation in Italien.