Griechische Inselkatzen
Eines Nachts war das kleine Bunte verschwunden, eins der drei Kätzchen, die seit unserer Ankunft auf der griechischen Insel unsere Hausgäste sind. So wie die Mutter der drei kleinen Tiere ganz plötzlich nicht mehr aufgetaucht ist, eine schielende schneeweisse Katze, deren Junge auch letztes Jahr auf unserem Hausstein spielten, war es einfach weg. Seit ihr Muttertier fort ist, haben die Kleinen sich an die Fersen der Nachbarskatze gehängt, eine ebenfalls schneeweisse Katze mit stahlblauen Augen und einem giftigen Temperament. Sie ist, wenn ich die Genealogie der Nachbarskatzenfamilien richtig verfolgt habe, so etwas wie eine Urururgrosstante der Kleinen.
Auch eins der drei Kätzchen hat ein schneeweisses Fell und verschiedenfarbige Augen; es ist, wie die meisten schneeweissen Katzen, vollkommen taub. Das dritte, ein niedlicher, weissgrau gescheckter Kater, war mit dem lustigen Bunten innig vereint. Zusammengerollt haben sie nachts in einer Ecke auf dem Dach des Nachbarhauses geschlafen und aneinander Pflege, Kräfte und Grenzen erprobt. Seit dem Verschwinden des bunten Clowns hat sich der Graue dem kleinen Weissen angeschlossen. Wohl weil ich selber einst in der Geschwisterfolge die ausgeschlossene Dritte war, tat mir das weisse Kätzchen immer ein wenig leid. Nun scheint der Verlust des einen der Gewinn des andern zu sein. Das Leben macht garstige Rechnungen auf.
Es ist klar, dass dies eine anthropozentrische Gleichung ist. Doch wir können vielleicht nicht anders, als uns in der animalischen Kreatur zu spiegeln, besonders in ihrer Schutzlosigkeit und Not. Die kleinen Kätzchen, die sich hier in den alten Gemäuern verstecken, sind so winzig und wehrlos unter dem riesigen Sternenhimmel, der tief im Süden die Nächte beschirmt. Himmel und Erde, das Weltall da oben und der Inselkosmos hienieden, sind noch nicht durch den Lichtsmog getrennt.
Das Lachen der Thrakerin
Die Himmelskunde ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit, und immer schon hatte sie ausser dem Lauf der Gestirne das Schicksal des Menschen und seine Stellung im Universum im Blick. Was passiert, wenn der Blick nach oben mit der Schwerkraft auf Kollisionskurs gerät, erzählt die berühmte Anekdote über Thales von Milet. Der griechische Astronom stürzt bekanntlich in einen Brunnen, als er das Himmelsgebäude studiert, und wird daraufhin von einer thrakischen Magd ausgelacht. Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füssen liege, habe er keine Ahnung, spottet die Thrakerin in der von Platon überlieferten Fabel.
Inzwischen kann der Mensch selbst zu den Sternen vorstossen, und ihre Bilder werden von Raumstationen zu uns auf die Erde gesandt. Doch dass sich die Sterne im Brunnen und wir uns in den Tieren spiegeln, erfährt man auf einer griechischen Insel auch heute noch jeden Tag. Thales soll erklärt haben, dem Schicksal für drei Dinge dankbar zu sein: Erstens als Mensch und nicht als Tier, zweitens als Mann und nicht als Frau und drittens als Grieche und nicht in einem anderen Land geboren worden zu sein. Ob Letztgenanntes heutzutage noch allgemeine Gültigkeit hat, bleibe dahingestellt. Doch ganz so schlimm ist es mittlerweile selbst auf dem griechischen Eiland nicht mehr, als Frau oder als Tier geboren zu werden.
Auf der Insel, auf der wir nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert den Sommer verbringen, werden meine Tage nicht zuletzt durch das Füttern der Katzen bestimmt. Ein weiss-roter Kater mit kugelrunden, blaugrünen Augen empfängt mich jeweils mit zärtlichem Schnattern auf halbem Weg zu unserem Haus. Die Giacometti-Katze, die ihren Namen der Ähnlichkeit mit den Spindelfiguren des Bildhauers verdankt, hat ihre gleichfalls spindelförmigen Jungen dieses Jahr in Sichtweite in einem Blumenbeet untergebracht. Weiter vor darf sie sich nicht wagen, die giftige weisse Katze des Nachbarn verteidigt mit Klauen und Zähnen ihr angestammtes Revier. Nun hat sie, zu unserem Erstaunen, die kleinen Waisenkätzchen als ihre eigenen adoptiert.
Unser Nachbar klaubt sich seit vielen Jahren vornehmlich schneeweisse Katzenbabys mit blauen Augen aus einem Wurf. Wenn sie älter werden, müssen sie das Terrain räumen, so dass nun die ganze obere Altstadt von tauben schneeweissen Katzen bevölkert wird. Der Nachbar ist psychisch krank. Auch sein Sohn ist psychisch labil; es gab in den letzten Sommern viel Zank und Geschrei. Doch für die Tiere haben sie immer gesorgt.
Bevor wir in diesem Jahr auf der Insel ankamen, wurde der Sohn des Nachbarn von drei starken Männern geholt. Es heisst, er sei in die Psychiatrie gekommen. Das Krankenhaus, das hier vor vielen Jahren mit den Segnungen der EU gebaut und nie eingeweiht wurde, ist für Fälle wie den unseres Nachbarn natürlich nicht ausgerüstet. So ist die ganze Familie mit dem Sohn auf eine andere Insel gereist, und das Haus nebenan steht leer. Auf diese Weise sind die kleinen Kätzchen in unsere Obhut übergegangen und mit ihnen der halbe feline Altstadt-Clan.
Haben Tiere ein Schicksal? Zumindest wird ihr Leben und Sterben von menschlichen Schicksalen mitberührt.
Da die Inselhäuser Wand an Wand gebaut sind und wir in akustischer Zwangsgemeinschaft mit unseren Nachbarn leben, sind wir oft unfreiwillige Zeugen ihrer laut ausgetragenen, häufig ums Essen kreisenden Kommunikation. In gewisser Weise erinnern mich die Gespräche der Inselbewohner an die Verständigungsformen der Katzenbevölkerung, die die Zeiten der Fütterung an ihren Clan weitergeben. Einen kleinen Tiger mit mandeläugigem Schlafzimmerblick, der immer die Vorhut machte, haben wir einst «den Schlepper» getauft. Verführerisch blinzelnd tauchte er regelmässig vor unserem Fenster auf und formte das Mäulchen zu einem lautlosen «Mau». Das war lange vor den Zeiten, als das Wort «Schlepper» an den Gestaden von Griechenlands Küsten einen tödlichen Klang bekam.
Der Gong der Totenglocke
Haben Tiere ein Schicksal? Zumindest wird ihr Leben und Sterben von menschlichen Schicksalen mitberührt. Nirgendwo kann man das besser studieren als auf einer kleinen griechischen Insel, wo uns auch die Tragödie ganz fremder Menschen viel näher angeht. Man kann hier nicht einfach die Tür schliessen, Krankheit und Tod wohnen gleich nebenan. Und so wie die Sterne in mediterranen Sommernächten näherzurücken scheinen, hallt auch der tönerne Gong der Totenglocke in unsere Träume hinein.
Die Totenglocke läutete dieses Mal öfter als sonst. Als der zwanzigjährige Sohn einer albanischen Inselbewohnerin ganz plötzlich an einem Herzversagen verstarb, sassen die trauernden Anverwandten tagelang vor seinem Haus. Die Haustür stand immer weit offen; die ganze Inselbevölkerung ging ein und aus. Während in unseren Breiten die Trauernden wie in einen Kokon gesperrt sind, ist ein Trauerhaus auf einer griechischen Insel ein offenes Haus.
An dem Platz vor dem Haus leben gemeinhin zehn Katzen. Nachdem die Trauernden sich hier wie ein schwarzer Vogelschwarm niedergelassen hatten, waren die Katzen verschwunden. Niemand füttert Tiere vor der Tür eines Toten. So waren die Katzen ganz plötzlich heimatlos und streunten verwirrt durch die Oberstadt. Es war, als trügen sie mit ihrem Hunger auch das Unglück die Gassen hinauf.
Das kleine Bunte ist nicht mehr aufgetaucht, wir haben über sein Ausbleiben viel (und für uns selber Tröstliches) spekuliert. Zuletzt aber ist es in meine Träume marschiert. Mir träumte, ich hätte aus Versehen eine Dose Katzenfutter verspeist. Jemand blies Seifenblasen über eine Mauer, hinter der sich ein tiefer Abgrund befand. Etwa zehn Katzen, in lauter verschiedenen Grössen, doch bis auf eine alle schneeweiss, schwebten den Kugeln nach. Als die kleinste, die einzige bunte, zum Sprung ansetzte und in den Abgrund zu stürzen drohte, bin ich aufgewacht.