Lange Weile. Über das Warten
Klappentext
»Warten ist eine Zumutung. Und doch ist es das Einzige, was uns das Nagen der Zeit fühlbar und ihre Versprechen erfahrbar macht.« In unendlich vielen Formen sind wir, meistens überraschend, dem Warten ausgeliefert: Wir warten auf den anderen, auf eine Antwort, auf den Richtigen, auf den Befund, auf eine Nachricht, auf das Ende der Schmerzen, auf die Sportergebnisse, auf das Ende des Regens, auf den nächsten Tag, auf die Geburt des Kindes … Das Warten ist eine Herausforderung. Im Aufgabenheft der verplanten Stunden die leere Seite, die es zu füllen gilt.
Pressestimmen
Wir warten ständig. Wir warten beim Bahnübergang; wir warten auf einen Anruf. Wir sind verabredet, aber der Freund lässt auf sich warten. Behörden und Vorgesetzte verstehen sich meisterlich darauf, uns warten zu lassen. Es gibt das bange Warten, und es gibt die Kinderfreude vor Weihnachten. Es gibt das eigene Zögern, das Warten auf den Einfall oder den eigenen Entschluss. Es gibt die Erfahrung der ungegliederten, unbestimmten Zukunft: das Leben als Möglichkeitsform.
In der schönen Reihe «Bibliothek der Lebenskunst» des Insel-Verlages, der wir schon Kabinettstückchen von Iso Camartin, Hans-Martin Gauger und Adolf Muschg verdanken, meditiert Andrea Köhler über die Ambivalenz des Wartens. Sie umschreibt ihre Absicht mit den Worten, sie wolle «ohne kulturkritisches Lamento der Pause, der Langsamkeit und dem Warten auch ein paar erfreuliche Seiten abgewinnen». Dies gelingt ihr zwar auch, aber die Ankündigung ist stark untertrieben, denn die Autorin betreibt in diesem kleinen Buch nicht mehr und nicht weniger als die Selbstvergewisserung des Menschen als eines wartenden Wesens. Sie beschreibt die «Zweideutigkeit unseres Daseins in seinem Puls von An- und Abwesenheit». Das heisst: Sie schreibt einen philosophischen Traktat über menschliche Zeiterfahrung. Damit ist sie nicht die Erste, und sie nennt auch die Autoren, die vor ihr in diesem Acker ihre Furchen gezogen haben: Kafka und Heidegger, Blumenberg und Weinrich, Peter Handke und, unvermeidlich, Samuel Beckett mit «Warten auf Godot».
Am Thema Zeit haben Philosophen seit Platon, Aristoteles und Augustin gesessen, aber seit Henri Bergson und Marcel Proust, seit der Mechanisierung des Alltags und den Bruch-Erfahrungen der grossen Kriege sind die Fragen nach Zeitverlust und Erinnerung, nach Beschleunigung und Langsamkeit, nach Hoffnung und Enttäuschung dem europäischen Denken unabweisbar vorgegeben. Andrea Köhler kennt das alles, lässt die Namen der Massgebenden auch gelegentlich fallen, aber setzt nicht deren Linien einfach fort. Bei diesem kleinen Buch kommt es darauf an, wie es geschrieben ist: subtil, aber nicht schwer; persönlich, aber nicht bekennerhaft; belesen, aber ohne die Allüren der Fachleute. Die durchsichtige Prosa besteht aus kleinen, eher theoretischen Meditationen. Sie knüpfen bereits an konkrete Erfahrungen des Lebens oder der Literatur an. Aber ihnen folgen jeweils Intermezzi in der ersten Person Singular, in denen ein – fiktives – Ich von Warteschleifen des Büros und der Liebe, des Märchens und des Schlafs erzählt. Die kunstvoll hergestellte Selbstunterbrechung der Autorin, diese glänzend gemachte Doppelzüngigkeit, widerrät denn auch, von einem «Traktat» zu sprechen. Dies Buch gibt individuelle Sichten. Wer es liest, lernt dabei, darauf zu verzichten, einen Gattungsbegriff für es zu suchen.
Es liesse sich auch nicht überschreiben: «Lob des Wartens». Es lässt die Zweideutigkeit stehen: das Nagen der Zeit neben der Vorfreude, die Knappheit der Zeit neben der Weisheit des Zögerns. Es hält «die schwarze Essenz des Wartens» in Gedanken fest, redet aber von einfachen Szenen her: Ein Kind bangt beim Weggehen der Mutter und wartet auf ihre Rückkehr; das Warten vorm Telefon, die Veränderung dieses Wartens durch Handy und E-Mail; das Warten auf Post. Gelegentlich verdüstert sich der Ton. Schwarzwald-Metaphysik tönt herein: Der Wartende, heisst es dann heideggernd, sei verfallen an die Zeit. Der Mensch sei das Tier, das im Warten den Tod antizipieren könne. Für die Moderne sei es charakteristisch, «Entwicklungskontinua aufzusprengen und den Zeitfluss zu zerreissen».
Aber die Aufmerksamkeit auf das Malaise der Gegenwart gerinnt nicht zu einer dogmatischen These; immer wieder treten sie – verzögernd, konkretisierend, individualisierend – dazwischen, diese schönen Interludien der Phantasie. Oder die Autorin fängt an, mit dem Wörterbuch zu philosophieren, und schliesst Wortfelder auf wie: warten, erwarten, Wartung, Wärter. Ein glücklicher Fund gelingt ihr, wo sie das seltsam-schöne Wort «saumselig» erklärt.
Es wäre falsch, den philosophischen Sinn zu verkennen, mit dem dies kleine Buch auftritt. Die «Zweideutigkeit unseres Daseins» zu untersuchen, ist etwas anderes, als einen Ratgeber für Lebenskrisen zu schreiben oder Trost gegen die Hektik der Gegenwart zu bieten. Aber es wäre ebenso falsch, das Buch zu systematisch zu nehmen. Dagegen wehrt es sich durch seine aufgebrochene Form, durch sein Zögern, Abwarten, Offenlassen. Andrea Köhler hat, in silbern-subtiler Diktion, ein kleines Buch von hoher Intelligenz und seltener Schönheit geschrieben.
– Kurt Flasch, Neue Zürcher Zeitung, 4.12.2007
Angetan zeigt sich Rezensent Burkhard Müller vom »anmutigen Gang« dieses Essays über das Warten, den die NZZ-Autorin Andrea Köhler vorgelegt hat. Die Frage, ob das Warten überhaupt ein lohnendes Thema sei, scheint ihm das Buch mit einem klaren Ja zu beantworten. Ihm selbst scheint das Warten gar »Abglanz und Vorübung« des Todes. Köhlers Essay verdeutlicht für ihn, dass es über das Warten tatsächlich unendlich viel zu sagen gibt. Besonders begrüßt er den Ansatz der Autorin, das Thema in kleinen Szenen, die seines Erachtens allesamt schon den »Keim eines weiteren Essays« in sich tragen, zu umkreisen und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ein Vorgehen, das er als anregend schätzt, weil es dazu einlädt, die Gedanken selber weiterzuspinnen. Einen ernsthaften Einwand gegen das Buch hat er nicht. Allenfalls ist ihm die Nennung von Referenzgrößen wie Foucault, Beckett, Baudelaire, Goethe, Flaubert, Handke Johann Peter Hebel und zahlreichen anderen ein wenig zu viel für ein so schmales Bändchen. Andererseits lobt er Köhlers Ausführungen über Freuds »Jenseits des Lustprinzips«, in denen sie zeige: alle Beklemmung des Wartens habe ihre Wurzel in der Panik, die Mutter könnte womöglich für immer wegbleiben.
– Perlentaucher.de / Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.12.2007)