Artikel

Paris, mon amour

12.07.2018

Paris, mon amour: Keine Stadt haben Dichter und Denker mehr geliebt

An der Erfindung von Paris haben viele mitgewirkt. Den Schriftstellern und Künstlern war die Stadt immer schon Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Eine Marbacher Ausstellung dringt tief ein ins Phantasma dieser Liebe.
Andrea Köhler  

Städte entstehen auf dem Papier – erst bei der Planung, dann in der Literatur. Das ist eine Binsenweisheit. Doch nicht jede Stadt wird, wie Paris, selber zum Buch. An kaum einem anderen Ort läuft man auf einem solchen Teppich aus Mythen, Geschichten, Bildern und fremden Erinnerungen wie rechts und links der Seine. Paris ist ein Phantasma für jeden, der je seinen Fuss auf den Asphalt des Boulevard Raspail oder das Pflaster der Butte Montmartre setzte – und ein Ziel der Sehnsucht für alle, die noch niemals da waren.

Mehr noch, die «Hauptstadt des 19. Jahrhunderts» und das Labor der Moderne, die Stadt der Liebe und der terreur, der Ort der Freiheit und des Exils hört auch für diejenigen, die dort leben, nicht auf, ihren Mythos zu spinnen – zumindest, sofern sie nicht unter finsteren Umständen ihr Dasein fristen. Unzählige Schriftsteller, Künstler, Philosophen haben Paris zur Hauptfigur ihres Schaffens gemacht – als wäre die Stadt nicht ein Ort, sondern eine Person. Wenige aber haben den Topos von Paris als einer «Geliebten», die es zu «erobern» gilt, emphatischer ausgemalt als der Schweizer Schriftsteller mit der russischen Emigrantenseele, Paul Nizon, dessen Hommage an die Stadt des Eros zu einem Lebensprojekt geworden ist.

Die Stadt der Brücken: Quai du Marché-Neuf. (Bild: Roger Melis, 1986)
Die Stadt der Brücken: Quai du Marché-Neuf. (Bild: Roger Melis, 1986)

Es ist diese emotionale Verquickung, die fast alle Bücher, die in Paris entstanden, zu Werken über Paris selber macht. Der speziellen Gemengelage, die auch dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu einem imaginären Universum der Künstler entspringt, ist nun eine sorgfältig aufbereitete und tief in das Paris-Phantasma entführende Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach gewidmet, die die deutsch-französische Amour fou von den passionierten Anfängen bis zum zerplatzten Traum in über fünfhundert Exponaten sichtbar macht.

Fortwährende Erfindung

Dass wir in Städten stets in den Fussstapfen anderer wandeln, ist eine Banalität, die sich mit dem richtigen Reiseführer in einen parcours d’esprit verwandeln kann. Dieser Reiseführer muss allem voran den Rhythmus der Stadt erkannt haben, ihr Tempo und ihre spezifische Gangart. In New York ist es der «Grid», das Raster, das dem ehemaligen Sumpfland am Hudson anno 1811 aufgeprägt wurde, und sind es die himmelstürmenden Wolkenkratzer, die den Kopf in den Nacken zwingen, die vorwärtsstürmende Hektik auf den Avenues und die dichten Touristenpulks, die den Schritt dirigieren.

Auch Paris hat die geraden Schneisen, die imperialen Achsen, die Baron Haussmann auf Wunsch von Napoleon III. durch die Stadt schlagen liess – nicht zuletzt, um drohende Aufstände zu unterbinden, die in dem mittelalterlichen Gassengewirr nicht leicht unter Kontrolle zu bringen waren. Noch immer aber ist Paris die Hauptstadt des Labyrinths und der verschlungenen Wege, der Parks, Passagen und Plätze, die den Modus der Fortbewegung bestimmen. 17 «Gangarten» haben die Kuratorinnen Susanna Brogi und Ellen Strittmatter ausgemacht, um die diversen Vitrinen von Heine bis Handke, von Rainer Maria Rilke bis Helen Hessel zu charakterisieren. An der Spitze schlendert die Zentralfigur des Flaneurs.

Nein, Paris wurde nicht von deutschen Autoren erfunden. «Die Erfindung von Paris», so der Titel der Ausstellung, findet ununterbrochen statt. Doch da wir im Marbacher Literaturarchiv natürlich allem voran einen Blick auf die Bestände der deutschen Paris-Erfahrungen werfen, beginnt die «Erfindung», die hier mit Briefen, Typoskripten und Fotografien entfaltet wird, mit dem ersten deutschen Flaneur, der anno 1830 vor den deutschen Zuständen an die Seine floh.

Heines «Feuilletons» für die «Allgemeine Zeitung» sind stilbildende Exemplare des Genres, die einem Tränen der Nostalgie in die Augen treiben könnten – würde der Witz des späteren Matratzengruftlers solche Anwandlungen nicht torpedieren. Es ist kein Zufall, dass schon Heines Momentaufnahmen aus der «Hauptstadt der civilisierten Welt», die dem Exilanten wie im «Weichbild» erschien, den fotografischen Blick erproben – einen Blick, der die in den Schaufenstern der Luxuskaufhäuser sich spiegelnden Regungen des petit peuple einfängt.

Die Wiege der Fotografie

Denn Paris ist nicht nur die Stadt der Bilder, sondern auch die Wiege der Fotografie, und sehr bald gesellte sich zum Stift die Kamera. Dass die Stadt aus dem grauen Stein in dieser Ausstellung auch im Medium der Schwarz-Weiss-Fotografie reflektiert und durchwandert wird, macht schon insofern Sinn, als das literarische Paris des letzten Jahrhunderts ohne Zelluloid nicht zu denken ist. Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Franz Hessel entwickelten ihre Theorien der Wahrnehmung nicht zuletzt anhand des neuen Leitmediums, dessen ephemerer Charakter in den Kontaktstreifen, die Siegfried und Lili Kracauer auf ihren unermüdlichen Gängen durch Paris aufgenommen haben, besonders prägnant zur Anschauung kommt.

Eines der anrührendsten und zugleich unheimlichsten Bilder aber ist eine Fotografie aus den 1940er Jahren: Der Kriegsberichterstatter und Marineoffizier Lothar-Günther Buchheim hat sie gemacht. Darauf sieht man ein kleines Mädchen mitten auf der Strasse mit Kreide Raster für das Spiel «Himmel und Hölle» auf den Asphalt malen. Die Szenerie ist gespenstisch leer – als lauere in der Selbstvergessenheit des Kindes eine Gefahr.

Lothar-Günther Buchheim fotografiert ein Mädchen in einer Pariser Strasse, 1940er Jahre. (Bild: Buchheim-Stiftung, Feldafing)
Lothar-Günther Buchheim fotografiert ein Mädchen in einer Pariser Strasse, 1940er Jahre. (Bild: Buchheim-Stiftung, Feldafing)

Dass diese tatsächlich jenseits des Bildrands liegt, zeigt die daneben hängende Fotografie von deutschen Besatzungssoldaten vor der Kulisse des Eiffelturms. Von da ist es auch zu Ernst Jünger nicht weit, der im Frühjahr 1941 als Offizier der Wehrmacht in die französische Hauptstadt einrückt, wo er bis zum Abzug der deutschen Truppen im August 1944 bleibt.

Flanieren und Marschieren

Der «Wechsel zwischen Flanieren und Marschieren» bestimmt die Gangart des literaturliebenden Offiziers, der am Grab von Baudelaire Blumen pflückt und in sein Kriegsalbum klebt. Das wird bekanntlich durch die berüchtigte Szene auf dem Dach des Hotels Raphael akzentuiert, in der der Autor die «gewaltigen Sprengwolken über Saint Germain», sie durch ein Glas Burgunder betrachtend, beschwört – und dabei über die «in gewaltiger Schönheit daliegende Stadt» schwadroniert, die sich «gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird», unterwirft.

Diese aus ästhetisierender Eiseskälte und blümchenpressender Sentimentalität zusammengesetzte Optik, die für die sich mit klassischer Bildung schmückenden Akteure der deutschen Barbarei nicht untypisch ist, bleibt – Jüngers Distanz zum nationalsozialistischen Regime ungeachtet – angesichts der nur um Haaresbreite verhinderten «totalen» Vernichtung von Paris ein Skandal.

Nicht nur darum seien hier (die Jünger durchaus gewogenen) «Tableaux Parisiens» empfohlen, die Wolfgang Matz in seinem Beitrag zu dem exzellenten Katalog entworfen hat. Sie beginnen just mit dem «symbolischen Ort des 20. Jahrhunderts», dem berühmten Hotel Lutetia, das, 1910 im Herzen von Saint-Germain eröffnet, nach 1933 zum Hort des von deutschen Schriftstellern organisierten Widerstandes, 1940 zur Luxusenklave der nationalsozialistischen Besatzungsmacht und schliesslich, nach der Befreiung, zum Aufnahmezentrum für überlebende Deportierte geworden ist.

Siegfried Kracauer fotografiert den Eiffelturm, 1938. (Bild: DLA Marbach)
Siegfried Kracauer fotografiert den Eiffelturm, 1938. (Bild: DLA Marbach)

Hier begegnen wir im November 1949 dem aus dem amerikanischen Exil zurückkehrenden Theodor W. Adorno, der auf dem Weg in seine Heimatstadt Frankfurt in Paris Zwischenstation eingelegt hat. Nach einem stilgerechten Einstieg mit Belon-Austern («nicht so gut wie Marennes») und Rebhuhn-Pastete streift er «aufs tiefste ergriffen» und euphorisch beglückt durch die Strassen, bis ihn plötzlich das kalte Elend anfasst. «Auf der Place de la Concorde geheult. Am Bahnhof der Riss: kein Benjamin da.»

Der Spurenleser in den Pariser Passagen, der Erfinder von Paris als semiotischem Raum, hat sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis in Portbou das Leben genommen; für die rettende Passage über den Atlantik reichte die Kraft nicht mehr. Ein Ignorant, wer den Riss beim Anblick des über seine Papiere gebeugten Philosophen in der Bibliothèque Nationale nicht heute noch spürt.

Dieser Riss, das himmelhoch jauchzende Glück und der herzzerreissende Schmerz, scheint zu Paris zu gehören wie zu keiner anderen Stadt. Rom provoziert das Schwärmen und die Antikenbegeisterung, Buenos Aires die Leidenschaft und die Melancholie, New York das Staunen und den Aufbruchsgeist. Paris aber ist die Stadt «des Herzklopfens und der Herzschmerzen», die auch Adorno empfand, die Metropole der Euphorie und der Einsamkeit.

Diese «doppelte Buchführung», die schon Heinrich Heine in seinem Exil empfand, hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts niemand passionierter und zugleich spitzzüngiger zum Ausdruck gebracht als die im Jahr 2002 verstorbene Schriftstellerin Undine Gruenter, die den Traum von Paris als der Stadt der Literatur weiterträumte, auch wenn er ihr, wie in einem hier ausgestellten Manuskriptauszug, unter der schreibenden Hand «zu Asche zerfiel».

Die Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach dauert bis zum 31. März 2019. Der Katalog kostet 30 Euro.

Griechische Inselkatzen

17.08.2017

Eines Nachts war das kleine Bunte verschwunden, eins der drei Kätzchen, die seit unserer Ankunft auf der griechischen Insel unsere Hausgäste sind. So wie die Mutter der drei kleinen Tiere ganz plötzlich nicht mehr aufgetaucht ist, eine schielende schneeweisse Katze, deren Junge auch letztes Jahr auf unserem Hausstein spielten, war es einfach weg. Seit ihr Muttertier fort ist, haben die Kleinen sich an die Fersen der Nachbarskatze gehängt, eine ebenfalls schneeweisse Katze mit stahlblauen Augen und einem giftigen Temperament. Sie ist, wenn ich die Genealogie der Nachbarskatzenfamilien richtig verfolgt habe, so etwas wie eine Urururgrosstante der Kleinen.

Vielleicht können wir gar nicht anders, als uns in der animalischen Kreatur zu spiegeln, in ihrer Anmut, mehr aber noch in ihrer Schutzlosigkeit und Not. (Bild: Andrea Köhler)

Auch eins der drei Kätzchen hat ein schneeweisses Fell und verschiedenfarbige Augen; es ist, wie die meisten schneeweissen Katzen, vollkommen taub. Das dritte, ein niedlicher, weissgrau gescheckter Kater, war mit dem lustigen Bunten innig vereint. Zusammengerollt haben sie nachts in einer Ecke auf dem Dach des Nachbarhauses geschlafen und aneinander Pflege, Kräfte und Grenzen erprobt. Seit dem Verschwinden des bunten Clowns hat sich der Graue dem kleinen Weissen angeschlossen. Wohl weil ich selber einst in der Geschwisterfolge die ausgeschlossene Dritte war, tat mir das weisse Kätzchen immer ein wenig leid. Nun scheint der Verlust des einen der Gewinn des andern zu sein. Das Leben macht garstige Rechnungen auf.

Es ist klar, dass dies eine anthropozentrische Gleichung ist. Doch wir können vielleicht nicht anders, als uns in der animalischen Kreatur zu spiegeln, besonders in ihrer Schutzlosigkeit und Not. Die kleinen Kätzchen, die sich hier in den alten Gemäuern verstecken, sind so winzig und wehrlos unter dem riesigen Sternenhimmel, der tief im Süden die Nächte beschirmt. Himmel und Erde, das Weltall da oben und der Inselkosmos hienieden, sind noch nicht durch den Lichtsmog getrennt.

Das Lachen der Thrakerin

Die Himmelskunde ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit, und immer schon hatte sie ausser dem Lauf der Gestirne das Schicksal des Menschen und seine Stellung im Universum im Blick. Was passiert, wenn der Blick nach oben mit der Schwerkraft auf Kollisionskurs gerät, erzählt die berühmte Anekdote über Thales von Milet. Der griechische Astronom stürzt bekanntlich in einen Brunnen, als er das Himmelsgebäude studiert, und wird daraufhin von einer thrakischen Magd ausgelacht. Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füssen liege, habe er keine Ahnung, spottet die Thrakerin in der von Platon überlieferten Fabel.

Inzwischen kann der Mensch selbst zu den Sternen vorstossen, und ihre Bilder werden von Raumstationen zu uns auf die Erde gesandt. Doch dass sich die Sterne im Brunnen und wir uns in den Tieren spiegeln, erfährt man auf einer griechischen Insel auch heute noch jeden Tag. Thales soll erklärt haben, dem Schicksal für drei Dinge dankbar zu sein: Erstens als Mensch und nicht als Tier, zweitens als Mann und nicht als Frau und drittens als Grieche und nicht in einem anderen Land geboren worden zu sein. Ob Letztgenanntes heutzutage noch allgemeine Gültigkeit hat, bleibe dahingestellt. Doch ganz so schlimm ist es mittlerweile selbst auf dem griechischen Eiland nicht mehr, als Frau oder als Tier geboren zu werden.

Auf der Insel, auf der wir nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert den Sommer verbringen, werden meine Tage nicht zuletzt durch das Füttern der Katzen bestimmt. Ein weiss-roter Kater mit kugelrunden, blaugrünen Augen empfängt mich jeweils mit zärtlichem Schnattern auf halbem Weg zu unserem Haus. Die Giacometti-Katze, die ihren Namen der Ähnlichkeit mit den Spindelfiguren des Bildhauers verdankt, hat ihre gleichfalls spindelförmigen Jungen dieses Jahr in Sichtweite in einem Blumenbeet untergebracht. Weiter vor darf sie sich nicht wagen, die giftige weisse Katze des Nachbarn verteidigt mit Klauen und Zähnen ihr angestammtes Revier. Nun hat sie, zu unserem Erstaunen, die kleinen Waisenkätzchen als ihre eigenen adoptiert.

Unser Nachbar klaubt sich seit vielen Jahren vornehmlich schneeweisse Katzenbabys mit blauen Augen aus einem Wurf. Wenn sie älter werden, müssen sie das Terrain räumen, so dass nun die ganze obere Altstadt von tauben schneeweissen Katzen bevölkert wird. Der Nachbar ist psychisch krank. Auch sein Sohn ist psychisch labil; es gab in den letzten Sommern viel Zank und Geschrei. Doch für die Tiere haben sie immer gesorgt.

Bevor wir in diesem Jahr auf der Insel ankamen, wurde der Sohn des Nachbarn von drei starken Männern geholt. Es heisst, er sei in die Psychiatrie gekommen. Das Krankenhaus, das hier vor vielen Jahren mit den Segnungen der EU gebaut und nie eingeweiht wurde, ist für Fälle wie den unseres Nachbarn natürlich nicht ausgerüstet. So ist die ganze Familie mit dem Sohn auf eine andere Insel gereist, und das Haus nebenan steht leer. Auf diese Weise sind die kleinen Kätzchen in unsere Obhut übergegangen und mit ihnen der halbe feline Altstadt-Clan.

Haben Tiere ein Schicksal? Zumindest wird ihr Leben und Sterben von menschlichen Schicksalen mitberührt.

Da die Inselhäuser Wand an Wand gebaut sind und wir in akustischer Zwangsgemeinschaft mit unseren Nachbarn leben, sind wir oft unfreiwillige Zeugen ihrer laut ausgetragenen, häufig ums Essen kreisenden Kommunikation. In gewisser Weise erinnern mich die Gespräche der Inselbewohner an die Verständigungsformen der Katzenbevölkerung, die die Zeiten der Fütterung an ihren Clan weitergeben. Einen kleinen Tiger mit mandeläugigem Schlafzimmerblick, der immer die Vorhut machte, haben wir einst «den Schlepper» getauft. Verführerisch blinzelnd tauchte er regelmässig vor unserem Fenster auf und formte das Mäulchen zu einem lautlosen «Mau». Das war lange vor den Zeiten, als das Wort «Schlepper» an den Gestaden von Griechenlands Küsten einen tödlichen Klang bekam.

Der Gong der Totenglocke

Haben Tiere ein Schicksal? Zumindest wird ihr Leben und Sterben von menschlichen Schicksalen mitberührt. Nirgendwo kann man das besser studieren als auf einer kleinen griechischen Insel, wo uns auch die Tragödie ganz fremder Menschen viel näher angeht. Man kann hier nicht einfach die Tür schliessen, Krankheit und Tod wohnen gleich nebenan. Und so wie die Sterne in mediterranen Sommernächten näherzurücken scheinen, hallt auch der tönerne Gong der Totenglocke in unsere Träume hinein.

Die Totenglocke läutete dieses Mal öfter als sonst. Als der zwanzigjährige Sohn einer albanischen Inselbewohnerin ganz plötzlich an einem Herzversagen verstarb, sassen die trauernden Anverwandten tagelang vor seinem Haus. Die Haustür stand immer weit offen; die ganze Inselbevölkerung ging ein und aus. Während in unseren Breiten die Trauernden wie in einen Kokon gesperrt sind, ist ein Trauerhaus auf einer griechischen Insel ein offenes Haus.

An dem Platz vor dem Haus leben gemeinhin zehn Katzen. Nachdem die Trauernden sich hier wie ein schwarzer Vogelschwarm niedergelassen hatten, waren die Katzen verschwunden. Niemand füttert Tiere vor der Tür eines Toten. So waren die Katzen ganz plötzlich heimatlos und streunten verwirrt durch die Oberstadt. Es war, als trügen sie mit ihrem Hunger auch das Unglück die Gassen hinauf.

Das kleine Bunte ist nicht mehr aufgetaucht, wir haben über sein Ausbleiben viel (und für uns selber Tröstliches) spekuliert. Zuletzt aber ist es in meine Träume marschiert. Mir träumte, ich hätte aus Versehen eine Dose Katzenfutter verspeist. Jemand blies Seifenblasen über eine Mauer, hinter der sich ein tiefer Abgrund befand. Etwa zehn Katzen, in lauter verschiedenen Grössen, doch bis auf eine alle schneeweiss, schwebten den Kugeln nach. Als die kleinste, die einzige bunte, zum Sprung ansetzte und in den Abgrund zu stürzen drohte, bin ich aufgewacht.

«Microaggression» löst bei US-Professoren Angst aus

24.06.2017

Bild: Scott Strazzante / Polaris / Laif

Amerikanische Studierende scheuen zunehmend die Konfrontation mit anderen Meinungen: 2016 wurde eine Rekordzahl von gestörten oder abgesagten Vorträgen verzeichnet. Ist die freie Lehre bedroht?

Als ich unlängst einen guten Freund nach längerer Zeit wieder traf und Anstalten zum üblichen Begrüssungsritual machte, scheute er unwillkürlich zurück. Der Grund für diese irritierende Reaktion ging mir erst im Laufe unseres Gespräches auf. Der Freund, langjähriger Literaturprofessor an einer renommierten amerikanischen Universität, war ein Jahr lang durch die Hölle gegangen. Er hatte gegenüber einer Studentin scherzhaft die nackten Brüste der Steinzeitfrauen am Lagerfeuer erwähnt. Kurze Zeit später ging eine Beschwerde bei der Universitätsleitung ein; Stichwort: «sexual harassment» und sexistische Degradierung von Frauen.

Als der Professor nach einer aufwendigen Prüfung durch eine unabhängige Kommission – und mehreren Stunden «Sensibilitätstraining» – in allen Punkten freigesprochen worden war, verklagte die vermeintlich Geschädigte die Uni auf eine Million Dollar – wegen Vereitelung eines gerechten Verfahrens. Die Sache wurde aussergerichtlich beigelegt und dem Professor Stillschweigen auferlegt. Doch die Geschichte ist signifikant für einen atmosphärischen Wandel an amerikanischen Unis, der einen rigiden Regelkatalog für alle Lebenslagen nach sich zieht. Der Grund für das Zurückzucken meines Freundes: Ein Wangenkuss auf dem Uni-Gelände geht durch, zwei sind tabu. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Schwarzes Leid, weisser Blick

06.04.2017

Bild: Dana Schutz

Darf eine weisse Künstlerin das Motiv schwarzen Leidens aufgreifen? New Yorks Kunstwelt ist so tief gespalten wie schon lange nicht mehr.

Es gibt ein höchst kontroverses Werk in der diesjährigen Biennale des New Yorker Whitney-Museums, ein Video, in dem ein junger Mann fast zu Tode geprügelt wird. Jordan Wolfsons Virtual-Reality-Installation «Real Violence» zeigt den Künstler, wie er gnadenlos auf sein am Boden liegendes Opfer einschlägt. Es ist ein Gewaltakt, der sich mittels der Technik in der Tat wie «reale Gewalt», nämlich beinahe physisch, mitteilt.

Diese Attacke ist auch ein Übergriff auf den Betrachter, der, mit Kopfhörern und einer 3-D-Brille ausgestattet, nicht nur zur Zeugen-, sondern zur Mittäterschaft verurteilt wird. Man sollte meinen, dass dieses Video zwar laute Proteste, aber nicht den Ruf nach Entfernung auslöst. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Dieser Künstler übt lustvoll Kritik

31.03.2017

Bild: Hans Haaicke

Er gilt als Bürgerschreck. Doch beim Gespräch in New York, wo Hans Haacke lebt, zeigt er sich als kluger Zeitgenosse.

Er ist bekannt dafür, dass er Listen aufstellt, zumindest ist das Aufzählen eine ästhetische Strategie, die in Hans Haackes Werken zur Anwendung kommt. Ebenfalls weiss man von ihm, dass er sich nicht gerne fotografieren lässt, und das Erste, was der Veteran der Konzeptkunst am Telefon vorbringt, ist die Bitte, kein Porträt von ihm abzudrucken.

Um der Forderung nach Bebilderung eines Artikels dennoch Folge leisten zu können, hat er sich selbst mit der Kamera vor dem Gesicht abgelichtet. Die Person des Künstlers, sagt Haacke, werde heute zum Fetisch gemacht. Er bevorzuge es, hinter dem Werk zurückzustehen. Das war bei seinen vielen aufsehenerregenden Aktionen nicht immer ganz leicht.

«Provokateur» und «Bürgerschreck» sind Vokabeln, die häufig fallen, wenn von Hans Haacke die Rede ist. Dabei sind seine subversiven Installationen keineswegs darauf aus, den Mann selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Dazu ist der achtzigjährige Künstler, der mich in den luftigen Höhen seines Lofts im New Yorker West Village empfängt, erstens viel zu uneitel und zweitens intellektuell zu versiert. «Ich mag den Begriff ‹politischer Künstler› nicht», sagt er. Meine Arbeiten reagieren auf die Realität.» […]

weiterlesen auf nzz.ch

Unpresidented

21.02.2017

Bild: Alex Brandon / AP

In Donald Trumps Universum der «alternativen Fakten» gerät auch die Rechtschreibung unter Beschuss.

Als George Bernard Shaw einst der englischen Orthographie den Krieg erklärte, weil die Anzahl der Schriftzeichen im Missverhältnis zu ihren phonetischen Ausdrucksmöglichkeiten stehe, konnte er nicht ahnen, dass seine Idee, die Schreibweise dem Klang anzugleichen, im Online-Zeitalter neue Aktualität erhalten sollte. Zwar hatte Shaw, der die Einführung lautlich adäquater Buchstaben noch nach seinem Tod gerichtlich durchsetzen lassen wollte, nicht die Abbreviaturen im Sinn, die mit dem Texten und dem Twittern Usus geworden sind. Doch die Schwierigkeit, das Englische korrekt zu buchstabieren, ist auch im Zeitalter der Autokorrektur nicht kleiner geworden. Der jüngste Beweis dafür kommt aus dem Weissen Haus.

An fehlerhafte Verlautbarungen aus Washington, auch «alternative Fakten» genannt, sind wir inzwischen gewöhnt, manch einem könnte freilich entgangen sein, dass die zweifelhafte Expertise der neuen Regierung auch die Rechtschreibung nicht verschont. Weisen schon Donald Trumps rund um die Uhr abgefeuerte Tweets notorisch Schreibfehler auf, so hat die Schluderei in der Orthographie nun auch die offiziellen Statements erfasst. Selbst das Motto auf dem Inaugurations-Porträt, das auf der Website der Library of Congress vertrieben wird, gelang nicht fehlerfrei: «No dream is too big, no challenge is to (sic) great» – ausser die Herausforderung, vor die der korrekte Gebrauch der Buchstaben stellt. Das fehlende O sei einzeln erhältlich, scherzte ein Twitter-User. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Jongleur des Möglichkeitssinns

03.02.2017

Bild: Monier / Rue des archives / Keystone)

Was ist Leben, was ist Kunst? Der US-Autor Paul Auster feiert seinen 70. Geburtstag mit einem weiteren literarischen Verwirrspiel.

«The Road not Taken» heisst ein oft zitiertes Gedicht des amerikanischen Lyrikers Robert Frost, das von einer Weggabelung im Wald handelt, der eine schicksalhafte Bedeutung zukommt. «The road not taken» ist so etwas wie unser Lebensschatten. Die Frage «Was wäre, wenn?» war schon immer ein Faszinosum für Schriftsteller, die das Spiel mit Optionen immerhin zu ihrem Beruf gemacht haben.

Paul Auster ist ein besonders gewiefter Jongleur des Möglichkeitssinns – das Raffinement, mit dem er Wirklichkeit und Fiktion in seinen siebzehn Romanen und fünf Autobiografien ineinander verwebt, hat ihm den Ruf eines Meisters der metafiktionalen Vexierspiele eingebracht. In seinem soeben erschienenen neuen Roman mit dem Abzählvers-Titel «4321» gibt der Autor seiner Figur Archie Ferguson vier unterschiedliche Biografien mit auf den Weg. Sie alle haben freilich eines gemein: Geboren am 3. März 1947, hat Archie exakt einen Monat nach Paul Austers eigener Geburt, heute vor siebzig Jahren, das Licht der Welt erblickt. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Die neue Rebellion

30.01.2017

Bild: Marcio Jose Sanchez / AP

Die Proteste in New York und anderswo in den USA nehmen zu. Doch Demonstrationen im Zeitalter von Facebook und Twitter zeigten bis jetzt selten Wirkung.

Ich kam gerade vor dem Gerichtsgebäude in Downtown Brooklyn an, als die skandierende Menge plötzlich in Jubel ausbrach. Die Bundesrichterin Ann Donnelly hatte soeben das am Freitag erlassene Einreiseverbot für sieben hauptsächlich muslimische Staaten teilweise ausser Kraft gesetzt. Noch geklärt werden muss, ob Trumps Dekret gegen die Verfassung verstösst. Doch ist diese im Eilverfahren gefallene Gerichtsentscheidung nicht nur ein Teilsieg für Bürgerrechtsorganisationen, die für die an den Flughäfen festgehaltenen Reisenden sofort in die Bresche gesprungen sind, sondern auch ein Zeichen dafür, dass der Widerstand gegen Washington hier stündlich wächst. […]

weiterlesen auf nzz.ch

First Lady der Pop-Kultur

10.01.2017

Bild: Ueslei Marcelino / Reuters

Der Abschied von der ersten schwarzen Frau im Weissen Haus wird für die USA schmerzlich sein: Michelle Obama war glamourös, direkt, in jeder Lage stilsicher und flösste selbst ihren Gegnern Respekt ein.

Wenn Barack Obama am 20. Januar dem Weissen Haus den Rücken kehrt, wird die Nation nicht zuletzt um den Verlust ihrer derzeit beliebtesten Persönlichkeit trauern – um die Frau, die als First Lady nicht nur in der Modewelt zu einer Art Star avancierte. Michelle Obamas Popularität hat in den acht Jahren Amtszeit ihres Gatten alle seine Umfragetiefs ohne Anfechtung überstanden.

Wäre sie gegen Donald Trump angetreten, so konnte man letztens häufig hören, wäre die Wahl anders ausgefallen. In den Erhebungen vor dem Countdown zum Wahlentscheid hat die First Lady an Beliebtheit jedenfalls alle geschlagen: Donald Trump, Hillary Clinton, Bernie Sanders – und ihren eigenen Mann selbstredend auch. «Michelle Obama’s Turn», titelte die «New York Times» in ihrer letzten Wochenendausgabe. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Und immer wieder Dopamin

31.12.2016

Bild: Toby Melville / Reuters

Erst vor knapp zehn Jahren wurde das iPhone in den Markt eingeführt. Inzwischen glauben die meisten, ohne Smartphone nicht mehr existieren zu können.

Heiligabend: Für einmal verebbt die Online-Flut. Nur Open Table («Finish your Holiday shopping»), Amazon («10 Dollar off and FREE 2 hour delivery until Christmas Eve») sowie Area-Yoga mit seinem «Holiday Schedule» geben nicht auf. Nun ja, die «New York Times» empfiehlt «The perfect gift», und – es gibt kein Entkommen – Amazon offeriert «die letzte Gelegenheit», ein freies Kindle-Buch herunterzuladen. Ein paar späte Weihnachtsgrüsse. Machen wir hier einmal Schluss und gestehen ein, dass wir es irgendwann aufgegeben haben, die Mail-Schwemme zu meistern. Mein Postfach zählt zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen – sporadischer Löschaktionen ungeachtet – 13’167 Mails. Das ist allein mein privates E-Mail-Konto – das geschäftliche lassen wir hier einmal beiseite.

Es geht alles so schnell. Von einem Tag auf den anderen meinen wir, nicht mehr auf etwas verzichten zu können, von dem wir gestern noch nicht einmal wussten, dass es je existieren würde. Als ich in den neunziger Jahren zum ersten Mal auf eine griechische Insel kam, gab es dort ein einziges öffentliches Telefon. Es hing in einem Verschlag und funktionierte aus unerfindlichen Gründen nur nachmittags zwischen vier und fünf. Wenn man Glück hatte und eine Verbindung zustande kam, klang aus dem Hörer wie aus einer Muschel das Rauschen des Meeres. Unauslöschlich hallt mir in diesem Meeresrauschen die Stimme meines Vaters nach, der bei einem solchen Anruf – noch nicht lange von einem Herzinfarkt auferstanden – wie aus dem Jenseits sprach. Er klang verletzbar und einsam und war mir vielleicht nie mehr so nah. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Ist jetzt endlich Schluss?

14.10.2016

Bild: Still aus einem Musikvideo von Kim Boekbinder

Donald Trumps Hinterzimmer-Rhetorik ist genauso abgestanden wie die patriarchalische Ordnung, als deren letztes phallisches Aufbäumen er sich geriert.

Es fängt damit an, dass der nette Opa von nebenan beim «Hoppe-Reiter»-Spielen das Höschen der Kleinen von innen beäugt. Es geht damit weiter, dass der Nachbar der Elfjährigen in die knospenden Brustwarzen kneift. Kommt das Kind in die Pubertät, glaubt jeder Bauarbeiter am Strassenrand, den Mädchenkörper mit Pfiffen und Zoten benoten zu dürfen. In der Strassenbahn bekommt sie ein erigiertes Geschlecht in den Rücken gedrückt, im Bus werden Brust oder Hintern betatscht. In der Schule, im Studium, in der Arztpraxis oder im Job: Es gibt keine Frau, die von unerwünschten sexuellen Avancen verschont geblieben ist. Der Lehrer, der Chef, der Fremde – sexuelle Übergriffe, die auf nichts anderem gründen als dem uralten männlichen Privileg der Verfügungsgewalt, gehören zum weiblichen Lebenslauf wie die Jungfrauen zum islamistischen Attentat.

Wer an dieser Tatsache noch immer Zweifel hegt, kann sich aus gegebenem Anlass auf Twitter von der Ubiquität solcher Erlebnisse überzeugen. Die kanadische Schriftstellerin Kelly Oxford hat dort nach Donald Trumps jüngster Prahlerei mit sexuellen Übergriffen unter dem Hashtag #NotOkay ihre Geschlechtsgenossinnen aufgefordert, von den ersten einschlägigen Erfahrungen zu berichten. In Nullkommanichts erhielt Oxford mehr als 50 Einträge – und zwar pro Minute. Inzwischen sind es Millionen. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Keine Fragen!

09.09.2016

Bild: ap

Clintons Auftritte in der Öffentlichkeit sind rar gesät. Dafür lässt sie sich auf privaten Fundraising-Partys von der Wall-Street-Elite hofieren.

Ich besitze eine Fotografie von mir und Bill Clinton. Vor vielen Jahren, George W. Bush hatte bereits das Zepter ergriffen, nahm Clinton mich vor dem Weissen Haus in den Arm. Um genau zu sein: Er legte mir jovial die Hand auf die Schulter und lächelte in Richtung Kamera.

Die Begegnung zwischen mir und dem 42. Präsidenten fand freilich nur im 2-D-Format statt. Weil das damals gerade amtierende Regierungsoberhaupt George W. Bush dermassen unbeliebt war, hatte man für die verbliebenen White-House-Pilger den populärsten aller bisherigen Präsidenten als Foto-Attrappe aus Karton am Zaun aufgebaut – auf der man durch ein Loch sein eigenes Gesicht ins Bild bringen konnte. Seither ist Bill Clinton mein berühmtester Pappkamerad. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Hexenjagd auf dem Campus

21.06.2016

Bild: Keith Bedford / Reuters

Die Auswüchse der Political Correctness auf dem amerikanischen Campus hat nicht nur für die Freiheit der Lehre, sondern auch für die Psyche der Studierenden gravierende Folgen.

Die Angst geht um auf dem amerikanischen Campus, die Angst der Lehrenden vor ihren Studenten. Schon das männlich konnotierte Wort «Student» birgt, im Deutschen zumindest, was man in den USA eine «microaggression» nennt – einen Mini-Gewaltakt mithin, der die Frauen eliminiert. Mini-Aggressionen sind sprachliche Wendungen, die als verletzend aufgefasst werden könnten. Nach Campus-Richtlinien gehört dazu etwa die Frage, wo man geboren wurde – weil sie impliziere, der oder die Befragte sei womöglich kein(e) richtige(r) Amerikaner(in). Der Satz «I believe the most qualified person should get the job» steht bei kalifornischen Hochschulen ebenso auf dem Index wie «America is the land of opportunity». Immerhin könnte Letzteres andeuten, dass wer seine Chance nicht ergreift, selber schuld sei.

In Harvard verlangen Jura-Studentinnen neuerdings, dass das Thema Vergewaltigung aus dem Lehrplan gestrichen wird, weil es Traumata wiederbeleben könnte. Es gibt Studierende, die schon das Wort «violation» (wie in «violates the law») für unzumutbar halten. An der Northwestern University wurden «safe spaces» für diverse Identitätsgruppen eingerichtet, die keiner sonst aufsuchen darf. Und im ganzen Land werden sogenannte «Trigger-Warnungen» appliziert, wenn ein Text etwa von sexuellen Übergriffen (Ovids «Metamorphosen») oder Antisemitismus (Shakespeares «The Merchant of Venice») handelt. Wer sich durch die suizidalen Implikationen in Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway» bedroht oder durch Huckleberry Finns rassistische Ausdrucksweise beleidigt fühlt, muss am Unterricht nicht mehr teilnehmen. Am Oberlin College in Ohio hat man die Texte schon einmal vorsorglich von aller Anstössigkeit befreit. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Gefiederte Therapeuten

11.06.2016

(Bild: Buzz Varley)

Sein Name war Coconut. Auf Anhieb habe ich mich in sein Plappern verliebt, ein zärtliches Zwitschern, wie Walter Benjamin einmal den Stil von Robert Walser charakterisiert hat, wobei er anmerkte, dass «dieses Zwitschern aus dem Wahnsinn kommt, und nirgendwoher sonst». Und aus einer Art Wahnsinn kommen sie alle, die im Serenity Park in Los Angeles Heilung suchen für ihre gemarterte Seele und ihren versehrten Leib. Es sind traumatisierte Kriegsveteranen, die auf dem Gelände des Veterans Administration Medical Center (VA) mit ebenfalls traumatisierten Papageien in einem einzigartigen Bündnis zusammengebracht werden, um, ja, um sich gegenseitig zu heilen.

Das VA ist ein Gesundheitszentrum für Kriegsheimkehrer, und wenn man die Szenerie vor dem Hauptgebäude in Augenschein nimmt, wähnt man sich selber mitten im Kriegsgebiet. Noch nie habe ich so viele schwer verwundete Menschen gesehen, Männer und Frauen, ihrer Glieder, ihrer Sinnesorgane und zuweilen auch ihres Verstandes beraubt. Es sind Soldaten, zurückgekehrt aus Afghanistan und dem Irak, aber auch Vietnamveteranen, deren seelische Traumata ihre Wucht nach Jahrzehnten noch nicht verloren haben. Die psychiatrische Abteilung hier verspricht Erlösung von dem Grauen, das sie bis in den Schlaf verfolgt. Ein anderer Ort, wo sie Hilfe finden, ist das «Sanktuarium» der Papageien. […]

weiterlesen auf nzz.ch

Im falschen Film

24.05.2016

Bild: HO-Photo / REUTERS

Als Kulturkorrespondentin einer respektablen Schweizer Zeitung sieht man sich nicht unbedingt im Visier des US-Geheimdiensts. Was also haben die Herren im Anzug vor unserer Tür verloren?

Neulich klingelte es an der Haustür; aus der Gegensprechanlage kam nur ein Rauschen. Da Fedex rund um die Uhr den regen Online-Konsum meiner Nachbarn bedient, habe ich auf den Buzzer gedrückt. Kurz darauf klopfte es oben an meiner Wohnungstür. Nun macht man in New York nicht einfach die Türe auf, schon gar nicht, wenn man als Frau allein zu Hause zwei Männer durch den Spion fixiert. Diese Anzug-Herren sahen freilich nicht aus, als führten sie Böses im Schilde, mehr wie die Zeugen Jehovas, die in Brooklyn Heights, wo sie bis vor kurzem ihr Hauptquartier hatten, zuweilen noch auf Bekehrungstour sind. Doch hatten diese zwei keine Broschüren zur Hand, sondern klappten mit jener professionell konzertierten Bewegung, die man aus dem Fernsehen kennt, ihre Ausweise auf und riefen im Chor: «FBI!» […]

weiterlesen nzz.ch

Das Mekka der Himmelsstürmer

14.11.2014
Ein Besuch am Spaceport America
Im Mekka der Himmelsstürmer
von Andrea Köhler
Richard Branson ist nicht der Einzige, der Privatkunden den Traum von der Reise ins Weltall erfüllen will. Doch der Absturz des Spaceship Two hat die Realisierung des Projekts einmal mehr verzögert.

Hier hat die Zukunft schon fast begonnen: Der von Norman Foster entworfene Spaceport America, welcher die Raumschiffe von Virgin Galactic beherbergen soll. (Bild: Albuquerque Journal / Corbis / Dukas)

Die Reise in den Weltraum beginnt in Truth or Consequences, einer Kleinstadt am Rio Grande, rund 50 Kilometer vom Spaceport America entfernt. Hier startet der Kleinbus, der uns zum Hort der Zukunft zu bringen verspricht, dorthin, wo man dem uralten Traum der Menschheit ein bisschen näher gekommen zu sein glaubt: dem Flug zu den Sternen, der Odyssee ins All. Die Fahrt geht durch eine endlose Wüste aus Staub, der Horizont gesäumt von nichts als ein paar Wacholderbüschen. Truth or Consequences ist der einzige Ort im Umkreis des jüngst in die Schlagzeilen geratenen Weltraumbahnhofs, ein Flecken, in dem es ausser ein paar heissen Quellen und einer Handvoll Hotels wenig zu sehen gibt. Das sollte eigentlich längst ganz anders sein. Fast eine Viertelmilliarde Dollar haben die Steuerzahler New Mexicos in den Spaceport America investiert – in der Hoffnung auf einen Boom, der nicht kommen will. Truth or Consequences ist auf dem Weg, zu einer der teuersten Geisterstädte der USA zu werden.

«The first mile is free»

«Wahrheit oder Konsequenzen» – der kuriose Name des Wüstenstädtchens, das sich vor ein paar Jahrzehnten nach einer populären Radio-Quizshow umbenannt hat, muss dem Chef von Virgin Galactic, Richard Branson, nun wie bitterer Hohn in den Ohren klingen. Seit der Firmengründung im Jahr 2004 behauptet der daueroptimistische Mieter des Weltraumbahnhofs, demnächst als erster Privatmann ins Weltall starten zu können – eine Ankündigung, die mittlerweile so oft wiederholt und aufgeschoben wurde, dass dem selbsternannten «Serien-Unternehmer» der Ruf eines Scharlatans oder Schönredners anhängt. Die jüngste tragische Konsequenz war der Absturz des Spaceship Two, bei dem ein Pilot ums Leben kam und ein anderer schwer verletzt wurde. Nach einer Ankündigung im vergangenen Frühjahr hätten eigentlich Branson und seine beiden Kinder an diesem Tag abheben sollen.

Auch wenn der erste kommerzielle Weltraumflug bisher an immer neuen Problemen scheiterte – der Spaceport America ist fertiggestellt. Die Landebahn, die Leitzentrale mit ihren futuristischen Monitoren und die gigantische Abfertigungshalle samt Besucherrampe, kurz: die ganze hochkomplizierte Apparatur wartet auf den grossen Moment. Auch eine Passagierliste existiert seit langem; der Preis für das Ticket zu den Sternen beträgt 250 000 Dollar. Über 600 Personen haben bisher bei Virgin Galactic gebucht, Hollywoodstars wie Angelina Jolie, Leonardo DiCaprio oder Kate Winslet, aber auch weniger glamouröse Raumfahrt-Besessene, die ihr gesamtes Vermögen in den Menschheitstraum stecken, die Erde einmal von aussen sehen zu können. Da der Weltraumbahnhof 1600 Meter hoch liegt, hat der erprobte Marketingstratege Branson den hübschen Werbeslogan «The first mile is free» geprägt.

Wie ein riesiger gestrandeter Rochen hockt der Spaceport im Wüstensand, ein schräg abfallender Rundbau mit gigantischen Seitenflügeln und einem grossen Stirn-Auge. Entworfen hat das Gebäude der Architekt Norman Foster. An der Rückseite gibt eine riesige Glasfassade den Blick auf die Start- und Landebahn frei; von ferne sieht das Gebäude aus, als ob es aus dem Boden herauskröche. Der Spaceport soll sich möglichst nahtlos in die Landschaft einpassen; sein Dach wurde mit der Flora der Wüste bepflanzt. Darum herum nichts als Leere und Wind, der Himmel scheint hier schon am Boden unendlich zu sein. Eine kilometerlange Start- und Landebahn ebnet den Weg ins All. Anders als die Raumschiffe der Konkurrenz startet Spaceship Two nicht senkrecht ins All, sondern wird von dem Mutterschiff White Knight Two in 15 000 Meter Höhe befördert, wo die Rakete ausgeklinkt und gezündet wird. Mit viereinhalbfacher Schallgeschwindigkeit soll sie dann auf eine Höhe von über 100 Kilometern in den Orbit schiessen und in einem 25-minütigen Gleitflug wieder in die Erdatmosphäre eintreten.

Der Raketenantrieb bereitet den Ingenieuren von jeher Sorge; beim vorletzten Testflug erreichte das Raumschiff lediglich eine Höhe von 21 000 Metern. Es war der Rekord, auch wenn bis zum Ziel noch 79 000 Meter fehlten. Gleichwohl verschob Branson den Jungfernflug immer nur um höchstens ein halbes Jahr. Der letzte Versuch dann, bei dem ein neuer Treibstoff getestet wurde, endete im Desaster. Ob der Treibstoff die Ursache für den Absturz war, ist bis anhin ungeklärt; andere Theorien gehen von einem Pilotenfehler aus. So oder so scheint das Antriebssystem noch weit von der angestrebten Funktionstüchtigkeit entfernt. Doch Branson will weitermachen; «es geht nicht darum, nie zu fallen, sondern darum, immer wieder aufzustehen», twitterte er nach dem Unglück. Schliesslich nimmt Virgin Galactic nicht den ersten Rückschlag und auch nicht die ersten Toten hin: Bei der Explosion einer Antriebsrakete vor sieben Jahren waren bereits drei Menschen ums Leben gekommen. Bisher sind offiziell 400 Millionen Dollar in dieses Wagnis geflossen; der Branson-Biograf Tom Bower schätzt die tatsächliche Summe freilich auf 900 Millionen Dollar.

Virgin Galactic ist nicht das einzige Unternehmen, das den Himmel stürmen will; dem Weltraum gilt die Sehnsucht der Stunde. Doch die Konkurrenz, wie etwa das Space-Unternehmen Blue Origin des Amazon-Tycoons Jeff Bezos, steckt noch in den Kinderschuhen. Es leuchtet ein, dass der «Get it all»-Stratege seinen Zugriff auch auf den Weltraum ausdehnen will. Bezos‘ Idee, seine Kunden für zweieinhalb Minuten in kosmische Dimensionen befördern zu lassen, um sie «mit der Schönheit unseres Planeten bekannt zu machen», nimmt sich freilich bescheiden aus im Vergleich zu dem Vorhaben des «Raumfahrt-Juristen» Art Dula, CEO von Excalibur Almaz Limited, der seine Klienten für den Schätzpreis von 150 Millionen Dollar gleich «to the far side of the moon» katapultieren will. «Departure Date: Thirty months after a contract is signed.»

Auch wenn sich all diese hochfliegenden Pläne nun ausnehmen wie ein Menetekel im Sand: Die Wüste ist ein Landstrich, der dem Himmel schon immer näher war. Einst führte durch dieses Terrain ein heiliger Indianerpfad, heute verzeichnet die Landkarte des New Mexico Museum of Space History stattdessen den «New Mexico Space Trail» mit über fünfzig Weltraum-relevanten Attraktionspunkten. Nicht weit vom Spaceport America, auf dem Testgelände White Sands Missile Range der US Army, zündete Wernher von Braun die ersten Vorläufer für die bemannte Raumfahrt. Die Astronauten der Apollo-Mission lernten dort ihre Mondlandefähre zu navigieren. Weiter im Osten, in dem kleinen Ort Roswell, haben die Strassenlaternen Köpfe wie grüne Marsmännchen – wohl als Erinnerung daran, dass hier im Jahr 1947 ein Ufo abgestürzt sein soll. Das Ereignis schlug noch Jahrzehnte danach solche Wellen, dass in Roswell Anfang der 1990er Jahre ein «International UFO Museum and Research Center» seine Tore öffnete, das seine wissenschaftliche Mission nicht weniger ernst nimmt als Sir Richard Branson die seine.

Reality-Show auf dem Mars

Wer gross träumt, lässt sich von bitteren Wahrheiten und katastrophalen Konsequenzen nicht abhalten. Branson heckt bereits Pläne für intergalaktische Verbindungen aus; in Abu Dhabi soll demnächst ein weiterer Weltraumbahnhof entstehen. Auch Hotels im All sind längst in seinem Visier. Das ist freilich nichts gegen die Visionen des Niederländers Bas Lansdorp, der eine «Reality-Show» auf dem Mars einrichten will. Ab 2025 sollen willige Kandidaten eine extraterrestrische Kolonie auf dem roten Planeten aufbauen; das Ganze wird als «das grösste Medienereignis der Weltgeschichte» angekündigt – und soll dergestalt auch finanziert werden. Über zweihunderttausend Aspiranten aus 140 Ländern haben sich beworben, einige davon gar im Adamskostüm. Weshalb sie das ausgerechnet für diese Mission empfehlen soll, ist nicht ganz klar: Auf dem Mars herrschen durchschnittlich minus 63 Grad Celsius; die Atmosphäre besteht hauptsächlich aus Kohlendioxid. Die Bewerbungskriterien sind gleichwohl nicht sehr elaboriert: Gesund müssen die Kandidaten sein und über gute Englischkenntnisse verfügen. Eine unabdingbare Eigenschaft wird allerdings verschwiegen: Wer den siebenmonatigen Flug zum roten Planeten trotz den starken Strahlungen überlebt, muss Reue-resistent sein. Ein Rückflug zur Erde ist im Skript nämlich nicht vorgesehen.

spaceport (Bild Stephan Krass)